Während der WM-Titel 1954 das Gefühl der Wende im Nachkriegsdeutschland brachte und in den Wirtschaftswunderjahren mündete, ging in Ungarn nicht nur eine Fußball-Ära zu Ende. sportal.de über das Trauma von Bern.
Viele Sprichwörter enthalten oft einen wahren Kern. Des einen Freud ist des anderen Leid zum Beispiel. Im Rückblick auf das Weltmeisterschafts-Finale von 1954 passt dies wie die Faust aufs Auge. Während der WM-Titel das Gefühl der Wende im Nachkriegsdeutschland brachte und in den Wirtschaftswunderjahren mündete, ging in Ungarn nicht nur eine Fußball-Ära zu Ende.
Eigentlich klingt es vermessen, doch auch die Niederlage der Goldenen Mannschaft in Bern trug ihren Teil zum ungarischen Volksaufstand zwei Jahre später bei. Schließlich hatte die kommunistische Partie um "Stalins besten Schüler" Matyas Rakosi die Fußballer als Aushänge- und Schutzschild vor der immer unzufriedener werdenden Bevölkerung genutzt. Dieses brach nach dem 4. Juli 1954 nach und nach weg. Solange die Goldene Mannschaft gewonnen hatte, hielt sich der Volkszorn trotz überfüllter Gefängnisse und vieler ungerechtfertigter Prozesse in Grenzen. Nach der Niederlage brodelte es hoch.
Die KP hatte ihren politischen Einfluss auf den Sport. Der parteitreue Trainer Gustav Sebes, nebenbei auch noch stellvertretender Sportminister, bezeichnete das Spiel als "Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus auf dem Fußballfeld", wie b-republik.de den Autor Peter Kasza, Verfasser des Buches "Fußball spielt Geschichte", zitiert. Sebes Team - trotz einiger Sportsoldaten wie Puskas - war eher unpolitisch und wollte eigentlich nur Fußball spielen. Den Einfluss des Staates spürten sie allerdings auf Schritt und Tritt - neben ihren Frauen waren Staatspolizisten die einzige Anhängerschaft im Ausland.
Die Wunderjahre 1950 bis '54
Ferenc Puskas und der Rest der Elf waren von 1950 bis zu jenem Juli-Tag bestens für die Propaganda geeignet: 32 Spiele ohne Niederlage in vier Jahren vor dem Finale, 144:33 Tore und der Gewinn der Olympischen Goldmedaille sprachen eine deutliche Sprache. Der Spitzname Goldene Mannschaft kam nicht von ungefähr.
Noch ein gutes halbes Jahr vor dem Finale hatten die Ungarn ihren letztlich größten Triumph gefeiert und England auf eigenem Boden mit 6:3 besiegt - das Rückspiel im Mai des WM-Jahres wurde zur noch größeren Schmach - 7:1 hieß es am Ende für die Ungarn. Davor war die Squadra Azzurra, damals schon zweifacher Weltmeister, in Rom mit 3:0 bezwungen worden.
Während des Turniers in der Schweiz ließen die Ungarn keine Gelegenheit aus, ihre Favoritenstellung zu untermauern. Nicht nur das 8:3 gegen Deutschland aus der Vorrunde, auch das Halbfinale gegen den amtierenden Weltmeister Uruguay, der noch nie zuvor eine WM-Niederlage erlitten hatte, bewies die eigentliche Ausnahmestellung der Mannschaft. 4:2 nach Verlängerung hieß es am Ende, Sandor Kocsis besiegelte das Schicksal der Südamerikaner mit zwei Toren in der Verlängerung.
Ferenc Puskas fehlte sowohl im Viertel- und Halbfinale und trotzdem hatten die Ungarn am Ende das Endspiel mit einer Torbilanz von 25:7 erreicht. Nicht umsonst hatte die ungarische Botschaft in Bern bereits vor Anpfiff zu einem Umtrunk nach dem Spiel geladen. Doch dann kam die 84. Minute und Helmut Rahn schoss aus dem Hintergrund - die vermeintliche Wachablösung Uruguays und die Krönung der Goldenen Mannschaft wurde durch dieses Tor zunichtegemacht.
Das Trauma von Bern
Bereits kurz nach Rahns Treffer und dem 3:2 bekamen die Einwohner Budapests einen Vorgeschmack auf die Ereignisse zwei Jahre später - die ersten kleinen Ausschreitungen "richteten sich gegen Sportler und Regime zugleich", wie Kasza in seinem Buch berichtet. Für die einst gefeierte Goldene Mannschaft brachen schwere Zeiten an.
Puskas erklärte später, bei seiner Rückkehr nach Budapest hätten ihn die Menschen angeguckt, als hätte er eine Krankheit. Andere, wie Torwart Gyula Grosics traf es noch schlimmer. Ihm gaben die Menschen und gerade die Machthaber die Hauptschuld an der Misere, schließlich hatte er die drei Tore reingelassen. "Als Torwart bist du der einsamste Mensch auf dem Spielfeld. Nach dem Spiel war ich auch im Leben der einsamste Mensch", zitierte stern.de den ehemaligen Schlussmann.
Grosics Geschichte
Grosics, wie Puskas und Jopzsef Bozsik Soldat, fürchtete bereits bei Rakosis Ansprache nach der Niederlage das Schlimmste. Auf der Heimfahrt hatte die Mannschaft kurz vor Budapest aussteigen müssen und kam in ein Trainingslager. Dort, so Grosics gegenüber dem Stern, habe am Abend dann der Diktator zu ihnen gesprochen: "Rakosi hielt eine Rede, auch der zweite Platz sei ein schönes Ergebnis und dann sagte er noch: Niemand von euch soll Angst haben, bestraft zu werden. Als dieser Satz fiel, wusste ich, dass er genau das Gegenteil bedeutet."
Im Dezember desselben Jahres sollte sich Grosics Vorahnung bestätigen, als er wegen Landesverrats angeklagt wurde. Sein Vater verlor seine Arbeit und er wurde vom angesehen Club Honved zu einem Provinzverein, Tatabanya, verbannt. Nach 13 Monaten wurde er schließlich aus Mangel an Beweisen frei gesprochen.
Ein Fast-Engagement für Flamengo sollte ihn allerdings 1957 noch einmal in Schwierigkeiten bringen, schließlich hatte er sich auf einer Auslandsreise mit seinem alten Verein Honved aufgehalten, der einen Torwart brauchte. Er entschied sich gegen das süße Leben an der Copacabana und für seine Heimat: "Was sind schon zwölf Kilometer Sandstrand der Copacabana gegen den Strand der Donau", begründete Grosics gegenüber stern.de seine damalige Entscheidung. Die er bei der Rückkehr allerdings kurzzeitig bereuen musste, als er von der Staatssicherheit empfangen und verhört wurde. Trotzdem spielte er auch bei den Weltmeisterschaften 1958 und 1962 für Ungarn - gemeinsam mit Bozsik, der auch geblieben war.
Die Spanier unter den Ungarn
Der Star der Mannschaft, Puskas, hatte das Land allerdings nach dem niedergeschlagenen Aufstand 1956 genaue wie einige andere der Nationalelf, die sich auf Länderspielreise befand, nicht wieder betreten. Erst zwei Jahre später konnte er nach abgelaufener FIFA-Sperre für Real Madrid auflaufen und feierte dort bekannte Erfolge. In der spanischen Nationalmannschaft konnte der Major jedoch nicht glänzen. Ganze vier Einsätze verbuchte er für die Iberer, schoss in diesen aber immerhin zwei Tore.
Sandor Kocsis und Zoltan Czibor taten es Puskas gleich, blieben zunächst in Wien und wurden ausgerechnet von Reals Erzrivalen FC Barcelona angeheuert. Beide setzten dort zu ähnlichen Höhenflügen an wie Puskas und beendeten ihre Karrieren schließlich mit einigen Titeln auf der Habenseite.
Das Abseitstor zum 3:3 - was wäre wenn?
Doch noch einmal zurück zum WM-Endspiel 1954. Gerade Grosics stellte sich nach eigenen Aussagen viele Jahre die Frage, was gewesen wäre, hätte er den Schuss zum 3:2 gehalten. Eigentlich hätte, wie 50 Jahre später aufgetauchte Aufnahmen beweisen, die Minute nach dem Tor von Rahn alles noch einmal auf den Kopf gestellt: "Und Kocsis flankt- Puskas abseits - Schuss, aber nein, kein Tor! Kein Tor! Kein Tor! Puskas abseits", wusste Herbert Zimmermann live zu berichten.
Doch dies stimmte nicht. Der englische Schiedsrichter William Ling hatte sich von der eigentlich korrekten Entscheidung auf das Ausgleichs-Tor von seinem walisischen Linienrichter abbringen lassen. In den neuen Aufnahmen ist klar zu sehen, dass Puskas nicht im Abseits stand. Verschwörungstheoretiker hatten in den folgenden Jahren ihre helle Freude an diesem nicht gegebenen Treffer, wurden doch Ling Rachegedanken für die Niederlagen der Three Lions unterstellt.
Was wäre wenn ist eine beliebte Frage im Sport - fast hätte Puskas die Niederlage verhindert und nicht nur Fußballgeschichte hätte umgeschrieben werden müssen. So bleibt es, wie so oft im Fußball bei der Tatsachenentscheidung: Es ist ein deutsches Wunder und ein ungarisches Trauma, was sich vor genau 57 Jahren im Wankdorf-Stadion zu Bern ereignete.
Sven Kittelmann