Das Finale der Schach-WM geht in die heiße Phase. Großmeister Ilja Zaragatski spricht im Interview über die einzigartige Spielweise des norwegischen Supertalents, den Generationswechsel im Schachsport und die wichtigste Grundregel für Einsteiger.
Herr Zaragatski, wie ordnen Sie den bisherigen Verlauf des WM-Finales ein?
Das Match gestaltet sich etwas untypisch. Normalerweise versucht man, mit Weiß einen guten Aufschlag zu haben und eine bestimmende Rolle in der Partie anzunehmen. Bisher konnte aber keiner der beiden wirklich Kapital aus seinem Anzugsvorteil schlagen, sogar eher im Gegenteil: Oft war der Schwarzspieler aktiver und hatte die besseren Ideen.
Woran liegt das?
Am besonderen Spielstil Magnus Carlsens. Er versucht selbst mit Weiß nicht, seinen Gegner ausvorzubereiten, also ihn schon in der Eröffnungsphase zu überlisten. Vielmehr strebt er offene, variable Stellungen an, um seine Stärken ausspielen zu können.
Was heißt das im Detail?
Vorab muss man sagen, dass die Eröffnungsphase im Schach sehr wichtig ist. Dort werden die Claims abgesteckt, oftmals ist sie auch wegweisend für den weiteren Verlauf der Matches. Beide Spieler haben dafür eine Vielzahl von Sekundanten (Großmeister), die das Spiel und die Taktik des Gegners analysieren und die Eröffnungsphase strategisch planen. Im WM-Finale kam es darauf bisher nicht so sehr an.
Warum liegt Carlsen nach acht Partien mit zwei Siegen vorne?
Alles in allem ist er einfach der bessere und komplettere Spieler. Viswanathan Anand hat seinen Zenit überschritten. Das heißt nicht, dass er ungefährlich ist, aber er hat es bisher in keiner Partie geschafft, Carlsen vor ernste Probleme zu stellen.
Was macht Carlsen zum besseren Spieler?
Er ist psychologisch extrem stabil und sehr schwierig zu spielen, weil er immer abgeneigt ist, zu früh die Friedenspfeife zu rauchen. Er setzt stattdessen darauf, Fehler seines Gegners zu provozieren. Selbst in Stellungen, die wirken, als wären sie leicht zu verteidigen, kann der Norweger seine Gegner überraschen - so war es auch in beiden Verlustpartien des Finales. Bei Carlsens Schwarzsieg sah zunächst alles nach einem Remis aus, bis er ein sehr kreatives Konterspiel zeigte, auf das Anand nicht mehr reagieren konnte.
Warum ist Anand, obwohl er mit zwei Verlustspielen hinten liegt, in den beiden letzten Partien nicht mehr Risiko eingegangen?
Diese Frage stellen sich Viele. Es ist so, dass Anand aufgrund der Weltrangliste und den Ergebnissen der vorangegangen Turniere als klarer Außenseiter in das Match gegangen ist. Wenn es dann noch gegen den übermächtig wirkenden Carlsen geht, versucht man natürlich, erst mal zu halten. Auf mich wirkt er, nachdem er trotz seiner sehr defensiven und zurückhaltenden Taktik in Rückstand geraten ist, stellenweise resigniert.
Aber irgendwann wird er den Schalter umlegen müssen?
Definitiv. Er wird den Titel nicht kampflos aufgeben, nicht umsonst wird er der Tiger von Madras genannt. Zwei Weißpartien bleiben ihm noch, in denen wird er angreifen.
Wie lautet Ihre Prognose für den Ausgang des Finales?
Carlsen wird den Titel aller Voraussicht nach ohne große Mühe nach Hause schaukeln. Sollte es Anand allerdings gelingen, die nächste Partie zu gewinnen, könnte das Momentum nochmal umschwenken und die Wende bringen. Man merkt aber leider deutlich, dass der Wandel im Schachsport auch an ihm nicht vorbei geht.
Sie meinen den Generationswechsel?
Ja, genau. Man darf dabei aber nicht vergessen: Carlsen steht nicht repräsentativ für alle starken jungen Spieler. Er ist ein Ausnahmetalent, dem das Schachspielen schon in die Wiege gelegt wurde. Auch in seiner Freizeit beschäftigt er sich fast ausschließlich mit dem Schachsport. Anand hat vor dem Finale scherzhaft gesagt: "Ich habe nur eine Chance ihn zu besiegen, wenn er sich bis dahin eine Freundin anlacht", damit liegt er wahrscheinlich gar nicht so verkehrt.
Dennoch sind viele sehr junge Spieler in die Weltspitze aufgerückt. Woran liegt es, dass der Altersdurchschnitt im Schach kontinuierlich sinkt?
Schach hat heute eine viel größere Lobby als noch vor zehn oder 15 Jahren. Die Spieler fangen schon viel früher an, Schach zu lernen, und entwickeln sich deutlich schneller weiter. Dazu kommt, dass viele Faktoren, die einen guten Schachspieler ausmachen, jungen Spielern wesentlich leichter fallen.
Was sind das für Faktoren?
Das sind vor allem die Konzentration, die Ausdauer und die schnelle Berechnung vieler Varianten. Eine weitere Komponente, die oft vergessen wird, ist die Fitness. Ich merke selber, dass ich bei großen Turnieren deutlich besser und konstanter spiele, wenn ich in den Wochen davor regelmäßig jogge und Sport treibe.
Demgegenüber steht aber die Erfahrung älterer Spieler.
Natürlich spielt auch die Erfahrung im Schach eine wichtige Rolle. Dabei muss man beachten, dass die technischen Möglichkeiten des Internets und hochentwickelter Schachcomputer es heutzutage einfacher machen, seine Fähigkeiten zu verbessern. Es bleibt abzuwarten, ob Anand seinen Großschatz an Live-Erfahrung in diesem Finale noch ausspielen kann, bisher ist ihm dies nicht gelungen.
Bei Spiegel Online stand Carlsens erster Sieg bei dieser WM sogar über der Verletzung Sami Khediras. Ein Zeichen der gestiegenen Wertschätzung Ihres Sports?
Carlsen ist das Aushängeschild des Schach-Hypes und verkörpert den Image-Wandel des typischen strengen Schachspielers zum modernen jungen Mann, an dem auch Werbung und Presse Gefallen finden.
Können Sie Schach-Einsteigern oder Hobbyspielern ein paar Tipps für eine erfolgreiche Partie geben?
So eine Frage kann man nicht mit ein paar Sätzen beantworten, es gibt aber eine Grundregel, an die man sich halten kann: Zentrum besetzten und Figuren entwickeln. Konkret bedeutet das, seine "Streitkräfte" in Kooperation miteinander zu setzen, sie in die Positionen zu bringen, wo sie viele Aufgaben verrichten können. Am Brettrand passiert gerade bei Partien unter Anfängern nicht wirklich viel - hat man aber die Kontrolle über die Brettmitte, ist das oft ein großer Vorteil.
Interview: Benjamin Wahlen